Zum Zeitpunkt der nationalsozialistischen Machtergreifung Ende Januar 1933 befanden sich ca. 800 «nichtarische» Hochschullehrer im Staatsdienst, die mit dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 ihre Stellungen verloren (Adler-Rudel 1974, 137). Jüdische Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zählten damit zu den ersten Berufsgruppen, die der antisemitischen Politik um Opfer fielen. Aber auch zahlreiche nicht-jüdische regimekritische Akademiker sahen sich gezwungen, ihre Lehr- und Forschungsstellen an Universitäten im NS-Herrschaftsbereich aus moralisch-ethischen Überlegungen aufzugeben oder wurden aus politischen Gründen entlassen. Die Wissenschaft ist sich bis heute nicht einig, wie viele Wissenschaftler während der NS-Zeit freiwillig oder unfreiwillig ihre Lehr- und Forschungstätigkeiten aufgaben. Die Zahlen schwanken je nach Studie zwischen 15 Prozent (Szöllösi-Janze 2002, 159) und 39 Prozent (Ferber 1956). Einig ist sich jedoch die Forschung darin, dass die Entlassungen und Vertreibungen einen ungeheuerlichen Verlust für die deutsche Wissenschaftslandschaft bedeuteten (Pross 1966).
Weit über die Hälfte der entlassenen Wissenschaftler emigrierte ins Ausland (Grüttner & Kinas 2007, 143), vornehmlich in die USA und nach Grossbritannien (Röder & Strauss 1999). Für jüdische Emigranten weckte auch die Hebräische Universität im britischen Mandatsgebiet Palästina Hoffnungen, jedoch war die junge Institution aus finanziellen Gründen nur sehr beschränkt in der Lage, Wissenschaftler aus Deutschland aufzunehmen. Die Schweiz war in geographischer, sprachlicher und kultureller Hinsicht ein wichtiges Emigrationsziel für deutschsprachige Akademiker. Ein erster kursorischer Blick auf die Akten ergab eine Liste von knapp fünfzig Personen, die sich zumindest vorübergehend in der Schweiz aufhielten.
Der vorherrschende Überfremdungsdiskurs sowie antisemitische Ressentiments in Behörden und Fremdenpolizei hatten direkte Auswirkungen auf den Umgang mit Flüchtlingen während der NS-Herrschaft, aber auch auf die Berufungspolitik der Hochschulen. Die Einwanderung von Schutzsuchenden wurde beschränkt und schliesslich gänzlich verhindert. Wer Einlass in die Schweiz fand, wurde nur vorübergehend aufgenommen und war verpflichtet, die Weiterreise in einen Drittstaat zu organisieren. Dennoch gelang es einer Reihe von Wissenschaftlern, sich in die Schweiz abzusetzen. Viele von ihnen versuchten, in Sicherheit ihre Karrieren so gut wie möglich weiterzuverfolgen oder (oft erzwungenermassen) ihre Weiterreise zu planen.
Die Frage nach dem Standort Schweiz im transnationalen Netzwerk der Wissenschaft im Exil während der Jahren 1933 bis 1950 leitet das vorliegende Forschungsprojekt mit seinen drei Teilprojekten an.
Das Projekt mit seinen drei Teilprojekten ist multidisziplinär angelegt und führt die Arbeit unterschiedlicher Ansätze innerhalb der Geschichtswissenschaft zusammen. Es sieht vor, den Gegenstand in institutionshistorischer, biographischer, wissenschaftshistorischer und migrationshistorischer Hinsicht zu untersuchen. Den drei Subprojekte gemeinsam ist, dass sie sowohl auf die strukturelle Makroebene wie auch mikrohistorisch auf das Individuelle blicken und damit einen Beitrag zu aktuellen theoretischen Reflexionen innerhalb der Geschichtswissenschaft leisten.
Die damit gewonnenen Resultate schliessen die Lücke der Erforschung der wissenschaftlichen Emigranten in der Schweiz und bilden damit notwendige Ergänzungen zur Geschichte der Schweizer Hochschulen, zur Schweizer Flüchtlingsgeschichte, zur internationalen und transnationalen akademischen Flüchtlingshilfe, zur Geschichte der transnationalen Forschungsgemeinschaft und zur Zirkulation des Wissens während und nach der NS-Herrschaft.
Die Ergebnisse des Gesamtprojektes werden auf einer dynamischen, öffentlich zugänglichen digitalen Plattform in Form einer digitalen Karte dargestellt.