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Das Projekt verfolgt das Ziel, Umbrüche, Transformationen und Kontinuitäten in den politischen Semantiken, den Verhandlungspraktiken und den sich darin widerspiegelnden Selbstkonzeptionen diplomatischer Akteure über die Revolutionszeit hinweg präziser zu erfassen. Durch die Ausrichtung auf das Agieren eines preussischen Diplomaten Neuenburger Herkunft, Jean-Pierre de Chambrier d’Oleyres, am Turiner Hof und in der Eidgenossenschaft gelangen Interaktionen verschiedener politischer Systeme in den Blick, die von der Französischen Revolution und den Revolutionskriegen auf unterschiedliche Art – Invasion und Besetzung, innere Revolutionierung, „defensive Modernisierung“ – beeinflusst wurden. Mit der Anknüpfung an Fragestellungen der neueren Selbstzeugnisforschung soll das Forschungsfeld der Diplomatiegeschichte methodisch erweitert werden. De Chambrier d’Oleyres’ vielbändiges, bisher der Forschung unzugängliches Journal, das er von seinem zweiundzwanzigsten Lebensjahr bis an sein Lebensende führte, seine Briefwechsel mit verschiedenen Familienmitgliedern und die Gesandtenkorrespondenz mit dem Berliner Hof schaffen optimale Voraussetzungen für einen akteurszentrierten Zugang zur Erforschung von Umbruchserfahrungen, Selbstkonzeptionen, Handlungslogiken und Praktiken der Diplomatie. Ausgehend von den Erwartungsstrukturen, Handlungsoptionen und Entscheidungen eines einzelnen Akteurs werden auf diese Weise Formalisierungsvorgänge – konkret die Herausbildung einer Fachdiplomatie –, aber auch deren Grenzen sowie die daraus resultierenden Situationen der Normenkonkurrenz in den Blick genommen.
Das Projekt führt zwei dynamische, bisher noch weitgehend voneinander getrennte Forschungsfelder systematisch zusammen: die neue Kultur- und Sozialgeschichte von Diplomatie und die Selbstzeugnisforschung. Mit den von Reinhart Koselleck als „Sattelzeit“ bezeichneten Jahrzehnten vor und nach 1800 wird ein Zeitfenster gewählt, das auf beiden Feldern bislang eine eher marginale Position eingenommen hat. Für die Zeit um 1800 im Raum der heutigen Schweiz in ihrer Dichte einmalige, erstmals für ein grösseres Forschungsprojekt zugängliche Bestände eines Familienarchivs gestatten es, die Frage nach Umbrüchen, Transformationen und Kontinuitäten der politischen Semantiken und der Verhandlungspraktiken mit jener nach einem grundlegenden Wandel der Personkonzepte in den Jahrzehnten um 1800 zu verknüpfen. Auf diese Weise soll die geplante Studie ausgehend vom Einzelfall zu verallgemeinernden Aussagen über den Charakter von Diplomatie in der Sattelzeit und zur Frage, ob sich diese auch als „Sattelzeit der Diplomatie“ beschreiben lässt, gelangen. Auch für sich genommen erscheint die Carrière diplomatique des Neuenburger Patriziers in preussischen Diensten Jean-Pierre de Chambrier d’Oleyres indessen als wichtiger Untersuchungsgegenstand: Sie erstreckte sich zeitlich und geographisch über verschiedene politische und gesellschaftliche Systeme und ermöglicht detaillierte Einblicke in die Beziehungen zwischen Preussen, Sardinien-Piemont, Frankreich und der Eidgenossenschaft in der Umbruchszeit um 1800. Mit der Ausrichtung auf eine Persönlichkeit, die beim Cantonnement von Neuchâtel 1814 sowie in den Debatten um die Neuordnung der Eidgenossenschaft eine wesentliche Rolle gespielt hat, leistet das Projekt zugleich einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der Ursprünge des schweizerischen Bundesstaats.