7. – 8. Oktober 2010: Die Grenzen des Netzwerks, 1200 – 1600 (Universität Bern)

Internationaler Workshop an der Universität Bern vom 7.-8. Oktober 2010

 

Beschreibung

Seit den einschlägigen Arbeiten von Wolfgang Reinhard, dem venerabilis inceptor der modernen kulturwissenschaftlichen Netzwerkforschung, ist der von ihm geprägte Begriff der „Verflechtung“ geradezu ein Paradigma zur Untersuchung und Beschreibung sozialer Interaktion und Organisation geworden. Das Potential dieses Ansatzes hat sich seither auf verschiedenen Gebieten der historischen Forschung beweisen können. Als ergiebig erwies der Ansatz sich etwa für die Untersuchung der Ämter- und Pfründenbesetzung an der römischen Kurie im Spätmittelalter. Auch im weltlichen Bereich führte das Netzwerk-Paradigma weiter, so etwa bei der Erforschung von Gelehrtenkreisen des Mittelalters oder sozialer Organisationsformen fürstlicher Herrschaft. In jüngster Zeit hat sich die Netzwerkforschung Anknüpfungspunkte zu den Gebieten der Ritualforschung, der symbolischen Kommunikation und des Freundschaftsdiskurses geschaffen.
In diesen Forschungen scheint das Netzwerk geradezu als Bedingung und Grundkonstante zwischenmenschlicher Beziehungen auf und evoziert den Eindruck homogen handelnder, durch gegenseitige Sympathie verbundener Gruppen. Doch stellt sich die Frage nach den lebensweltlichen Grenzen und der Struktur des Netzwerks sowie der Innen- und Außenwahrnehmung von Verflechtungen in der historischen Wirklichkeit. So ist das Problem von bewußter und unbewußter In- und Exklusion – etwa aufgrund persönlicher Antipathie oder der sozialen Kategorisierung von Individuen und Gruppen – von zentraler Bedeutung für die innere Struktur von Personenkreisen, ohne dass diese Frage bisher hinreichend thematisiert worden wäre. Auch nach der zweckrationalen „Bewirtschaftung“ und Inszenierung von persönlicher Vernetzung wurde bislang nicht gefragt: Gab es – etwa an den Universitäten – Zitationsstrategien, die vom Wunsch einer Person kündeten, sich wissenschaftlich einflußreichen Personengruppen anzunähern oder Nähe zumindest zu behaupten? Hatten Individuen parallele Strategien um ihren sozialen Aufstieg abzusichern?
Neben dem blossen Konstatieren sozialer Interaktion steht zwingend die Frage nach ihrer Qualität, welche für die Darstellung der internen Struktur und vor allem der Bewertung von Netzwerken zentral ist. Ebenfalls weitgehend unbearbeitet ist bislang die zeitgenössische Wahrnehmung von Netzwerken im Spannungsfeld zwischen – eigenen – Freunden und – fremden – Seilschaften. Auf politischer Ebene wäre auch nach den Kontinuitäten und Brüchen in Verwaltung und Herrschaft zu fragen, die der Tod eines geistlichen oder weltlichen Fürsten mit sich bringen konnte: Wurde das Verwaltungspersonal ausgetauscht oder löste sich die Besetzung wichtiger Posten aus den Zwängen des Klientelwesens zugunsten einer zweckrationalen Besetzung von Stellen? Der Bereich der Städtebünde sowie der Konflikte zwischen Kommunen bietet Beispiele für die Visualisierung von Dissens und Konsens im Ritual. Es geht uns also ganz grundsätzlich um die Frage nach der Bewertung und Bewertbarkeit sozialer Interaktion in personellen Netzwerken des Mittelalters und der Frühen Neuzeit wie um die Grenzen des Paradigmas als solchem in historisch-lebensweltlicher wie in wissenschaftstheoretischer Perspektive.