Kaiser Claudius wurde dem Bericht des antiken Biografen Sueton zufolge in der Mitte des 1. Jh. n. Chr. auf dem römischen Forum von einer aufgebrachten Menschenmenge mit altem Brot beworfen (Suet. Claud. 18f). Der Grund für den Unmut der Bevölkerung waren empfindlich gestiegene Getreidepreise, die angeblich auf schlechtes Wetter zurückzuführen waren. Claudius reagierte, indem er für Rom in Ostia einen neuen Seehafen bauen liess und Schiffseigentümer im Dienste der römischen Getreideversorgung mit Privilegien ausstattete – und wie Sueton explizit erwähnt, hatte der Kaiser mit diesen Massnahmen Erfolg. Wenn man Sueton beim Wort nimmt, hatten also erstens die hungernden Römer immer noch genügend Brot, um damit ihren Kaiser zu bewerfen und zweitens konnte der Kaiser mit seinen logistischen Massnahmen … das Wetter verbessern!
Dieses Beispiel zeigt in aller Kürze exemplarisch die Diskrepanzen auf, die mich im Zusammenhang mit der antiken Getreideversorgung Roms besonders interessieren: Wenn antike Autoren über Versorgungsengpässe oder Hungersnöte in Rom schreiben, geht es in aller Regel nicht um diese selbst, sondern um politische oder moralische Überlegungen, die damit im Zusammenhang stehen. Wenn überhaupt Ursachen für die Schwierigkeiten benannt werden, sind die Erklärungen meist der Komplexität des Versorgungssystems nicht angemessen und konzentrieren sich im Wesentlichen auf schlechtes Wetter und schlechte Kaiser. Logistische Probleme scheinen für die antiken Autoren dagegen nicht relevant gewesen zu sein. Dass die Autoren sich mit sehr oberflächlichen Erklärungen zufrieden geben erstaunt umso mehr, da wir aufgrund sorgfältiger Lehrbücher (z.B. Columellas zwölf Bücher über die Landwirtschaft) wissen, dass es in Rom nicht am notwendigen Expertenwissen für eine sehr viel differenziertere Darstellung gefehlt hätte.
In meiner Dissertation sollen demnach die Ursachen von Engpässen bei der Nahrungsmittelversorgung in Rom untersucht werden, und zwar insbesondere aus Sicht der antiken Autoren. Wie das Beispiel oben zeigt, eröffnen auffällige Diskrepanzen zwischen den antiken Darstellungen einerseits und den Erkenntnissen der jüngeren Forschung andererseits dabei die Möglichkeit, Rückschlüsse auf römische Konzeptionen und Denkmuster zu ziehen, die zum Teil erheblich von modernen Vorstellungen abweichen.
Meine Hauptthese ist, dass antike Historiographen Versorgungsengpässe nicht um ihrer selbst willen beschrieben haben, sondern ausschliesslich aus politischen oder moralischen Motiven. Dieser Hypothese werde ich auf der Basis eines Katalogs der Quellenstellen zu Schwierigkeiten mit der Nahrungsmittelversorgung mit Hilfe diskursanalytischer Ansätze auf der einen, sowie einer praxeologischen Quellenlektüre auf der anderen Seite nachgehen.
Die Arbeit verspricht neue Erkenntnisse über antike Vorstellungen von Zusammenhängen zwischen menschlichem Handeln und Umweltvorgängen – etwa über Krisen und deren Ursachen, über den Umgang mit Naturphänomenen, logistischen Herausforderungen und Knappheit sowie über die Rolle der Kaiser bei der Krisenprävention. Daneben sind aber auch neue Einsichten in die Selektionskriterien der Historiographen und in den Stellenwert von Fachwissen in Rom zu erwarten.
Betreut wird meine Dissertation in Form eines Doppeldoktorates von Prof. Dr. Thomas Späth in Bern, sowie von Prof. Dr. Paul Erdkamp an der VUB in Brüssel. Die Finanzierung verdanke ich der Gerda Henkel Stiftung, der Janggen-Pöhn Stiftung, der Stiftung zur Förderung der Ernährungsforschung in der Schweiz und swissuniversities.