Quellengattungen im Wandel der Zeiten
Althistoriker*innen arbeiten mit einem sehr viel kleineren Quellenkorpus als es die Zeitgeschichte tut. Allerdings variiert nicht nur die Menge der Quellen und damit die Methodik, sondern auch die Quellengattungen unterscheiden sich. Die Forschung zu Gesellschaften der Antike arbeitet häufig mit archäologischen Funden, Inschriften oder Münzen. Schriftliche Überlieferungen sind meist Geschichtswerke, Herrscherbiographien sowie philosophische, rhetorische oder politische Abhandlungen. Für das Mittelalter kommen besonders Annalen, Chroniken, Viten, Hagiografien, Urkunden, Briefe, Predigten und Genealogien hinzu. Für die neuere Geschichte steigt die Zahl der Quellen, hinzu kommen Ego-Dokumente wie Tagebücher, Briefe, Reisebeschreibungen und Memoiren.[1] Durch technische Fortschritte und neue Medien hat sich für den Bereich der Zeitgeschichte besonders die Zahl der Quellen massiv erhöht. Zu den neuesten Quellen zählen Tondokumente, Videos, Fernsehsendungen, Fotographien, Oral History-Interviews oder auch Social Media. Im Gegensatz dazu gehen andere Quellenarten zunehmend verloren. So werden beispielsweise Briefe durch flüchtigere Kommunikationsmittel wie Telefone, E-Mails oder Messengerdienste ersetzt. Typisch für die Zeitgeschichte sind die digitalen Quellen.[2]
Sachquellen/Realien
Zu den Sachquellen gehören beispielsweise Münzen, Wappen, Kleidungsstücke und Museumsobjekte. Für die Interpretation von Sachquellen benötigen wir, wie im vorherigen Kapitel erwähnt, häufig Spezialwissen. Dieses wird beispielsweise von der Archäologie oder von den historischen Hilfswissenschaften wie der Numismatik oder der Heraldik bereitgestellt. Sachquellen sind besonders wichtig für frühere Epochen, aus denen nur wenige schriftliche Quellen vorhanden sind.
Schriftliche Quellen
Die am häufigsten genutzte Quellengattung der Geschichtswissenschaft ist die der schriftlichen Quellen. Diese Gattung lässt sich in eine Vielzahl von Untergruppen aufteilen. Dazu gehören amtliche Dokumente, Überlieferungen von Parteien und Verbänden, Parlamentsprotokolle, Zeitungsartikel und Flugblätter, private Korrespondenzen, Memoiren und viele weitere.[3]
Die Zugangsmöglichkeit zu diesen Quellen ist unterschiedlich. Publizierte Quellen wie Zeitungen oder Memoiren sind meist einfach über Bibliotheken und Archive zugänglich, dasselbe gilt für Parlamentsprotokolle. Viele Quellen aus dem Bereich der Politik liegen in Editionen vor. Unveröffentlichte amtliche oder staatliche Quellen sind jedoch nicht immer einsehbar. Erst nach Ablauf einer dreissigjährigen Frist sind sie in Archiven zugänglich. In einigen seltenen Fällen kann eine Sperrfrist durch einen Antrag verfrüht aufgehoben werden. Für personenbezogene oder politisch heikle Dokumente sind die Sperrfristen länger, um den Datenschutz oder ein schutzwürdiges öffentliches oder privates Interesse zu gewährleisten.[4]
Bildquellen und Visual History
Zu den Bildquellen gehören sowohl statische Bilder wie Karikaturen, Plakate, Briefmarken, Gemälde oder Fotographien als auch bewegte, laufende Bilder. Je nach Typus der Bildquelle variieren ihre Eigenschaften, weshalb innerhalb der Quellenkritik unterschiedliche Fragen an sie gerichtet werden müssen. Bei der Visual History nimmt der historische Kontext (Herkunft, Verwendung etc.) stets eine wichtige Rolle ein. Ausserdem wird betont, dass Bilder Teil einer Kommunikationsbeziehung zwischen Urheber*innen und Adressat*innen sind – nicht einfach nur Abbilder einer gesellschaftlichen Realität. Als Adressatin kommt dabei die ganze Gesellschaft in Frage, womit die gesamtgesellschaftliche Bedeutung der visuellen Medien betont wird.
Die Interpretation von Bildern kann besonders anspruchsvoll sein, da dabei einige Besonderheiten berücksichtigt werden müssen.
- Bilder sind synchron und nicht linear; auf einem Bild sind viele Informationen zugleich präsent, während ein Text einzelne Informationen nacheinander liefert.
- Informationen auf Bildern sind stärker verdichtet als in Texten. Um dieselben Aussagen wie ein Bild zu treffen, ist oft eine grössere Menge von Text nötig.
Audioquellen
Zu den Audioquellen gehören alle akustischen Aufnahmen, die analog oder digital gespeichert sind. Typische Dokumente sind Reden, Vorträge, Musik- und Theateraufführungen, Werbungen, Aufnahmen von Interviews, Dialekten oder Radiosendungen. Oft liegen Tonaufnahmen auch in schriftlich fixierter Form vor (Beschreibungen von Geräuschen/Transkription). Solche Quellen sind allerdings keine Audioquellen im engeren Sinn. Audioquellen lassen sich für ganz unterschiedliche geschichtswissenschaftliche Forschungen nutzen, kommen aber im Vergleich zu Textquellen nach wie vor eher selten zum Einsatz. Gerade aus diesem Grund lohnt sich die Auseinandersetzung mit ihnen. Weil es sich um eine relativ neue Quellengattung handelt, gibt es noch keinen einheitlichen methodischen Zugang. Grundsätzlich empfiehlt sich bei auditiven Materialien dasselbe quellenkritische Vorgehen wie bei schriftlichen Quellen, allerdings gilt es bei der historischen Arbeit mit Tondokumenten einige Besonderheiten zu beachten.
- Im gesprochenen Wort können Betonungen, Nuancen oder Stimmungen vermittelt werden, die in verschriftlichter Form nicht erkennbar sind. Dies ist einerseits eine Chance, andererseits eine Gefahr, da besonders emotionale oder rhetorisch ausgefeilte Aufnahmen eine kritische Distanz benötigen.
- Da die schriftliche Form den Umgang mit den Quellen erleichtert, werden Tondokumente für historische Arbeiten oft verschriftlicht. Dadurch können jedoch interessante Elemente verloren gehen. Die verschriftlichte Form ist in jedem Fall eine Reduktion.[5]
Audiovisuelle Quellen
Der Umgang mit Filmquellen ist im Vergleich zu Textquellen aufwendiger und es gibt auch hier noch keine etablierte Herangehensweise. Bei Filmen lassen sich verschiedene Arten unterscheiden.
- Es gibt historische Filmdokumente, das sind Aufzeichnungen von Personen, Vorgängen oder Ereignissen. Der Zeitpunkt der Aufnahme und die abgebildete Zeit stimmen dabei überein.
- Ausserdem gibt es Spielfilme, die ein fiktives Geschehen oder eine Handlung mit Bezug zur Realität darstellen. Bei Nachstellungen historischer Vorgänge wird von Geschichtsspielfilmen gesprochen. Die Herstellungszeit und die abgebildete Zeit sind bei Spielfilmen in der Regel nicht deckungsgleich, bei Geschichtsspielfilmen überschneiden sich die Zeiträume nie. Geschichtsspielfilme sind keine Quellen für die Zeit, die sie darstellen, sondern für die, aus der sie stammen.
- Als drittes Genre gibt es den Dokumentarfilm, der sich aus historischen Filmdokumenten, Neuaufnahmen, nachgestellten Szenen, Interviews etc. zusammensetzt. Auch Dokumentarfilme sind keine Quellen für die abgebildete Zeit. Allerdings können sie als Quellen der Rezeptionsgeschichte oder der Erinnerungskultur im Zentrum stehen sowie die Absichten der Filmschaffenden einer Zeit illustrieren.
Filme kommunizieren über bewegte Bilder und zudem oft über Ton. Indem sie zwei Sinne ansprechen, haben sie eine besonders starke Wirkung und verfügen über zahlreiche Deutungsmöglichkeiten. Wie bei der Fotographie können die Filmschaffenden erheblichen Einfluss auf die Wirkung des Films haben, weshalb Filme keineswegs objektiver sind als andere Quellen, sondern genauso quellenkritisch behandelt werden müssen. Dies ist besonders naheliegend im Fall von Propagandaaufnahmen.
Digitale Quellen
Digitale Quellen sind in der Regel gut zugänglich und ermöglichen neue Ansätze bei der Quellenanalyse. Sie können in digital reborn data (zuerst in analoger Form vorhanden und im Nachhinein digitalisiert) und digital born data (von Beginn an in digitaler Form erstellt) unterteilt werden. Digital reborn data findet sich oft in digitalen Editionen. Diese sind gut zugänglich, allerdings muss immer hinterfragt werden, was tatsächlich vom Originalbestand digitalisiert wurde und was nicht. Digital born data beinhaltet beispielsweise Internetseiten, E-Mails, Posts oder Kurznachrichten. Mit der Verwendung dieser Quellenbestände kommen neue Problematiken für die Geschichtswissenschaft auf; es handelt sich um eine enorme Datenmenge, die nur mangelhaft durch Kontrollinstanzen geprüft wird und besonders flüchtig ist. Zudem lässt sich bei digitalen Quellen oft kaum das Original von der Kopie unterscheiden.
Oral History und Zeitzeug*innen
Seit den 1960ern wird Oral History als Methode der Geschichtswissenschaft angewandt. Dabei werden Interviews mit Zeitzeug*innen geführt, wodurch neue Quellen entstehen. In manchen Fällen können so Informationen gewonnen werden, die in keiner schriftlichen Quelle festgehalten wurden. Ausserdem lassen sich spontan Rückfragen stellen und dadurch Aspekte vertiefen, die in einer schriftlichen Quelle womöglich nur am Rande angesprochen werden und dadurch verloren gegangen wären. Oral History bietet ein beinahe unbegrenztes Quellenkorpus, der nur durch Erinnerungslücken oder Ressourcen eingeschränkt wird. Besonders wichtig ist Oral History für die Arbeit mit Kulturen ohne schriftliche Tradition, weshalb diese Methode oft in der aussereuropäischen Geschichtswissenschaft eingesetzt wird. Ganz allgemein bietet Oral History die Chance, Personen eine Stimme zu geben, deren Erfahrungen selten festgehalten werden. Daraus ergibt sich grosses Potential für die Alltagsgeschichte.
Zeitzeug*innen sind heute lebende Personen, die Ereignisse oder Vorgänge in der Vergangenheit miterlebt haben und dadurch eine Art Vermittlerrolle zwischen Vergangenheit und Gegenwart einnehmen. Sie berichten in einem Gespräch von ihren persönlichen Erlebnissen. Obwohl sie in der Regel nicht bewusst irreführende Aussagen treffen, ist es wichtig, ihre Äusserungen bei der Auswertung des Interviews kritisch zu hinterfragen. Erinnerungen können undeutlich oder trügerisch sein. Zudem erinnern sich Zeitzeug*innen immer vor dem Hintergrund der Gegenwart an die Vergangenheit, was ihre Einschätzung vergangener Ereignisse beeinflusst. Erlebnisse werden im Nachhinein oft anders bewertet als zum Zeitpunkt des Geschehens und der Wunsch, selbst in einem guten Licht zu erscheinen, kann den Bericht beeinflussen.
Zur Methode der Oral History gehört Interviewplanen, Durchführen und Auswerten. Diese Schritte sollten jeweils gut durchdacht werden. Wer ein Interview führt, hat Einfluss auf das Quellenmaterial und die Ergebnisse.